Florian Kaspar Rubin
Bernstrasse, Annäherung an die Thujen der Bernstrasse

Für die Work in Progress Arbeit «Bernstrasse» beschäftige ich mich seit 2021 mit meiner Nachbarschaft um die Bernstrasse in Luzern. Durch die Strasse mäandernd besuche ich regelmässig sämtliche Thujen in der Umgebung. Neben dem ich die Pflanzen wiederholden fotografiere, begann ich auch mit einer Recherche zu Thujen und zu der Strasse. Dabei interessierte mich, dass es sich bei den Thujen in Schweizergärten um Zuchtformen handelt, von den Thuja Bäumen der Great-Lakes in Kanada. Diese Wurden im 16. Jahrhundert als Kolonialware nach Europa gebracht, wo sie von vermögenden Menschen bereits als Hecken gepflanzt wurden um Grundstücksgrenzen zu markieren. In der Schweiz boomten Sichtschutzhecken aus Thujen in den 1960er Jahren und werden offensichtlich Heute noch häufig als Grenzmarkierung verwendet. Durch die trockener werdenden Böden und aus dem Süden an gewanderte Habitatholzkäfer sind die Thujen in Zentraleuropa heute bedroht. Weil Thujen für sämtliche in der Schweiz lebenden Tiere giftig und nutzlos sind, werden sie von zeitgenössischen Landschaftsarchitekt*innen kaum noch gepflanzt. Es ist möglich, dass Thujen in den nächsten Jahren wegen der Klimaerwärmung und dem Zeitgeist wieder aus Zentraleuropa verschwinden.
Die Bernstrasse leidet in gewisser Weise seit dem Mittelalter durch verschiedene Arten von Ausgrenzung der Stadt Luzern. Im Mittelalter war das Quartier durch die Stadtmauer von der Stadt ausgeschlossen. Es lebten hier Jene, welche die Stadt in gewisser Weise brauchte, aber nicht in ihrem Alltag sehen wollte. Prostituierte, Bettler, Geflüchtete, Kranke und der Henker lebten an der Heutigen Basel- oder Bernstrasse. Nachdem die Stadtmauer zurückgebaut wurde, grenzen bis Heute, sämtliche Gleise und eine Autobahneinfahrt das Quartier vom Stadtzentrum ab. Nach wie vor gilt das Basel- Bernstrasse Quartier als das unattraktivste der Stadt. Die Bewohner*innen haben das im Schnitt niedrigste Einkommen und über der Hälfte der Anwohnenden wurde bisher kein Schweizer Pass zugestanden. Heute befindet sich die Strasse in einer Gentrifizierung, welche mit zahlreichen Projekten Abrisse von Gebäuden zugunsten von Neubauwohnungen plant. Dabei werden vermutlich auch die Menschengruppen, welche Heute an der Strasse leben durch neue Gruppen ersetzt, so wie neue Pflanzen die Thujen ersetzen werden.

Auf einem Spaziergang vom Steinbruch an der Bernstrasse, von wo auch der Sandstein zum Bau der Stadtmauer stammte, vorbei an den Mauern, auf welchen die Gleise und Autobahneinfahrt verläuft, bis hin zu den noch erhaltenen Teilen der Stadtmauer, fotografierte ich sämtliche Wände um das Basel- Bernstrasse Quartier.
Für die Fotoserie der Thujen musste ich teilweise Privatgrundstücke betreten. Einmal wurde ich dabei von einem Mann, demonstrativ beobachtet, was mich veranlasste einen Brief an die Anwohnenden bei der entsprechenden Thuja zu schreiben. Darin versuchte ich mich in die Thuja hineinzuversetzen, welche in diesem Fall als einzelne Pflanze in einer Buchenhecke gesetzt wurde. Auch versuchte ich aufmerksam zu machen, dass die Grenzpolitik der Thuja-Hecke eine kolonialistische Vergangenheit hat und dass die Bernstrasse selbst von Ausgrenzung betroffen ist und gelitten hat. Ich warf die Frage in den Raum, welche Grenzen von wem berücksichtigt werden sollten und lud die Anwohnenden dazu ein zusammen mit mir ihrer Thuja näher zu kommen. Ich schrieb noch einen zweiten, vergleichbaren Brief an die Anwohnenden bei einer anderen, in diesem Fall einer kranken, Thuja. Darin zog ich, neben einem Bericht über meine Beobachtungen der Hecke, eine Parallele zum Thuja sterben im Klimawandel und dem geplanten Abriss des entsprechenden Gebäudes, welcher mit einer Art von Gentrifizierung des Quartiers im Zusammenhang steht.
Zwei weitere Briefe richten sich an die Skulpturen der Bernstrasse, welche zu beiden Enden der Strasse aufgestellt sind und Männer der einfachen Arbeiterklasse darstellen, so wie eine katholische Idee des guten Hirten. Durch die Neubauprojekte sind beide Skulpturen an der Strasse ebenfalls vom Abriss bedroht.

BA Fine Arts

Kunstgattung: Fine Arts
Medium: Fotografie, Text, Zeichnung
Materialität: Farbfotografie auf Halb Glanzpapier, Bleistift auf Briefpapier, Farbstift auf Papier
Masse: Mehrteilig

Mentorat Praxis:
Raphaël Cuomo

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Liebe Anwohner*innen der Bernstrasse 8

Wenn ich beim Kreuzstutz auf den Bus warte, stehe ich ihrer Hecke gegenüber. Ich habe Zeit
sie zu betrachten, wie sie zurückgedrückt und teilweise verdeckt wird von den drei Werbetafeln
vor ihrem Maschendrahtzaun. Immer häufiger kam ich auch nur wegen den Thujen vorbei.
Der Bernstrasse folgend gehe ich diesen kurzen Abschnitt gerade neben ihnen durch. Unter
den Werbetafeln sehe ich alle ihre Stämme und zähle 34. 34 ganz gerade gewachsene ein
oder zweistämmige Pflanzen. Es fällt auf, dass sie grob geschnitten wurden, so dass sie nicht
über eine bestimmte Höhe hinauswachsen und nicht zur Strasse hin buschig werden. Mit meiner
Hand kann ich die meisten Stämme gerade so umschliessen. Bei der Bushaltestelle Kreuzstutz
habe ich die Möglichkeit von einer Ecke im Wartebereich von hinten in ihren Garten hineinzuschauen.
So sehe ich die Thujen von der anderen Seite. Von ihrem Garten aus gesehen,
wirken sie viel lebendiger. Die meisten Zweige wachsen in diese Richtung und geben ihrem
Garten eine grünbraune flauschige Wand. Von der Strasse aus betrachtet ist das nicht der Fall.
Von da aus sehe ich wie einzelne von ihnen völlig kahl sind. Grob gestutzt sehen sie eher wie
Pfähle aus als wie lebende Pflanzen. Andere haben nur wenige und abgestorbene oder ganz
braune Zweige. Viele verschiedene Braun und orange Töne konnte ich da sehen. Selbst die
Stämme sind etwas angegraut. Kommt das vom Abgas der Autos? Tut ihnen die Strasse nicht
gut? Oder die Werbungen?
Auf «Googlemaps» konnte ich sehen, dass die Thujen an ihrer Grundstückgrenze im September
2014 noch ganz dicht bewachsen waren, eine smaragdgrüne Hecke. Damals gab es auch
noch viele mehr und keine war beschnitten. Über die Zeit haben sie sich stark verändert. In
der Zeitung lese ich, dass Thujen in Europa wegen dem Klimawandel aussterben werden. Die
Thuja kommt eigentlich aus Kanada bei den «Great-Lakes» und ist sich feuchtere Erde gewöhnt.
Mit ihren flach wachsenden Wurzeln hat sie Mühe, mit den immer trockeneren Böden
der Schweiz. Ich frage mich ob bei den Thujen in ihrem Garten auch die unmittelbare Nähe
zur Strasse ein Problem ist für die flachwüchsigen Wurzeln. Vielleicht versigelt der Asphalt den
Boden, so dass er erst viel tiefer unten feucht ist und die Thujen verdursten langsam. In den
letzten Tagen habe ich gesehen, wie in ihrem Garten hinter der Hecke eine Baustelle entstand.
Rasen wurde ausgegraben und an gewissen Stellen durch Kiesel ersetzt. Im Entwicklungskonzept
zur Bernstrasse der Stadt Luzern sah ich, dass ihr Haus und die benachbarten Gebäude abgerissen
oder stark umgebaut werden sollen. Die Stadt will so verdichtetes wohnen ermöglichen.
Mit öffentlich zugänglichen Grünflächen soll das Gebiet ausserdem aufgewertet
werden. Ob dann noch dieselben Leute es sich leisten können, hier zu leben ist
ungewiss. Es scheint so als würde nicht nur der Lebensraum der Thuja von der Bernstrasse
verdrängt werden, sondern auch der der Anwohner*innen und der alten Gebäude. Es ist sicher
auch wichtig, dass sich die Dinge verändern. Das St. Galler Tagblatt schreibt sogar, dass
sie sich auf das Verschwinden der Thuja freuen würden. Mir sind sie aber irgendwie ans Herz
gewachsen. Bis es so weit ist, möchte ich mich gerne mit dem was jetzt noch da ist beschäftigen.
Ich kenne sie nicht, ich bin nur dabei ihre Hecke kennen zu lernen. Was für eine Beziehung
haben sie zu ihren Pflanzen? Wie fest haben die einzelnen Thujen in der Hecke individuelle
Charakter für sie? Ich schreibe ihnen meinen Absender auf den Briefumschlag. Es würde mich
freuen sie kennen zu lernen.

Liebe Grüsse

Florian

Lieber Heinz
Die Bronze-Plastik “Hirt mit Schafen“ am Kreuzstutz und du, markieren wie Grenzsteine,
an beiden Enden der Bernstrasse stehend, das Gebiet in dem ich arbeite. Zwischen euch
mäandere ich und treffe immer wieder, oben beim Grenzhof Schulhaus auf den Hirt mit
Schafen oder unten beim Kreuzstutz auf dich. Beide steht ihr vielleicht als
Repräsentanten für die Menschen, welche zwischen euch an der Strasse leben oder
lebten. Ich schreibe dir persönlich, obwohl du eigentlich “nur“ eine 3Meter 50 grosse,
nach Christoph Fischers Gipsmodell, spezifisch gegossene Betonmasse bist, weil ich bei
meinen Spaziergängen zu Thujen an der Bernstrasse, auch zu dir in eine gewisse
Beziehung komme. Wenn ich die Bernstrasse herunter laufe schaue ich dir häufig ins
Gesicht. Mit deinem etwas schräg vom Körper abgewandten Kopf treffen deine Augen
aber nie auf meine. Was würdest du sehen wenn deine Linsen mit einem Gehirn
verbunden wären? Obwohl du mit den himmelblau lackierten Holzstäben in den Händen
an einer Arbeit zu sein scheinst, stehst du, das Körpergewicht auf beiden Beinen verteilt,
da als Beobachter. Du Blickst über die Strasse hinweg, ich denke an die Wand der
Sagenmattstrasse. Du bist ein Beobachter der nichts sehen kann. Du stehst still, mitten
im Kreisverkehr während alles von den fünf Richtungen kommend um dich herum fährt
oder wie die Gleise, den Kreisel als Tangente schneiden. Auch ich bleibe dir gegenüber
selten stehen und betrachtete dich eher aus der Bewegung und aus verschiedenen
Winkeln heraus. Von der Baselstrasse ausschauend, erinnert mich die Art, wie du das
Holzstück hältst, an Jesus-Darstellungen, das Kreuz tragend. Von da aus sehe ich auch
das Kruzifix am Hang des Gütschwaldes hinter dir. Im 14. Jahrhundert markierte an
dieser Stelle ein anderes Kruzifix die Grenze zu Vogelfreiem Gebiet, da wo heute die
Bernstrasse und die Sagenmattstrasse sind.
Wie lange bleibst du da noch stehen? Bis kürzlich dachte ich, du würdest in den
nächsten Jahren abgerissen und zerstört werden. In der Publikation, welche zu deinem
Aufbau erschienen ist, wird dies in einem Begleittext erwähnt. Christoph Fischer hat mir
jedoch gesagt, dass das wohl gar nicht stimmt und du eher von Ideen der Stadtplanung
zur Abschaffung deines Kreisels bedroht wärst. Bei genauer Betrachtung fällt mir
ausserdem auf, dass deine Oberfläche an manchen Stellen mit feinen Rissen übersät ist
und du womöglich bald Mal restauriert werden musst. Christoph sagte mir, dass sich
niemand finanziell dafür in der Verantwortung sieht. Im November las ich in der
Lokalzeitung dass der Mensch Heinz Gilli, an Covid verstorben ist, nachdem er einige
Jahre an diversen anderen Krankheiten litt.
Ich glaube als Abbild von Heinz Gilli stehst du für eine gewissen Gruppe aus der
Arbeiterklasse, welche wie er, um die 40er Jahre geboren wurden, und die Basel- und
Bernstrasse zusammen mit den Gastarbeiter*innen dieses Alters prägten.
Du stehst auch für die Generation, welche den Thuja boom in den 60er Jahren der
Schweiz miterlebt oder mitgetragen haben. Bei dem Reihenhaus auf der anderen Seite
der Gleise, wo der Mensch Heinz lebte, bei der Hausnummer wo er zuhause gewesen
sein soll, sind mir zwei Thujen aufgefallen. Dreiwipflige Bäume, smaragdgrün und
bedeckt von feinen Spinnweben. Ein brauner Zweig im Geäst des einen Baumes könnte
Symptom sein für unter der Borke lebende Käfer. Wie auch die Menschengruppe um
Heinz Gilli werden die Thujen an der Bernstrasse merklich weniger. Die Neubauprojekte
im Quartier, wie z.B. das „foreveryoung“ Wohnungsbau-Projekt, lockt mit neuen
Pflanzen, neue Menschen an. Noch ist unklar welche Gruppen hinter den bald gesetzten
Felsenbirnen und Liguster Büschen in den Neubauten wohnen werden. Wie würdest du
aussehen, wenn du die Zukünftige Generation der Bernstrasse vertreten würdest? Als
Mensch oder Pflanze oder Thuja-Borkenkäfer? Eigentlich wünsche ich mir aber, dass du
und andere Hinweise auf eine verblassende Gruppe und ihre Zeit, sichtbar bleiben
werdet.

Liebe Grüsse

Florian

Lieber Hirt mit Schafen
Die Beton-Plastik “Heinz“und du markieren, wie Grenzsteine, an beiden Enden der
Bernstrasse stehend, das Gebiet in dem ich arbeite. Zwischen euch mäandere ich und
treffe immer unten beim kreuzstutz auf Heinz oder oben beim Grenzhof Schulhaus auf
dich. Beide steht ihr vielleicht als Repräsentanten für die Menschen, welche zwischen
euch an der Strasse leben oder lebten. Ich entschloss mich dir zu schreiben, obwohl du
„nur“ eine nach Rolf Brems Lehmmodell, spezifisch gegossene, mehrteilige Bronzemasse
bist, weil ich bei meinen Spaziergängen zu Thujen, an der Bernstrasse, auch zu dir in
eine gewisse Beziehung komme. Wobei ich mir nicht sicher bin ob ich weiss was du
eigentlich bist. Ich versuche dich kennenzulernen, finde dich als Individuum aber
schwer fassbar. Ich beobachte dich, in der Zeit, in der ich mich auf dem Verlassenen
Pausenplatz vom Strassenlärm ausruhe. Ich schaue zu dir und denke über dich nach,
während ich auf Schleichwegen zwischen den Pflanzen gehe und auf den verschiedenen
Ebenen der aufgeschütteten Erde der Landschaftsarchitektur hoch und runter gehe. Du
erscheinst mir als eine beinahe anonyme Gestallt. Zeigst kaum menschliche Gliedmasse,
bist ein Mantel mit Klüften und Spinnennetzen, von den Schuhen bis zum Gesicht mit
tiefer Kappe. Du stehst ganz gerade und blickst aus deinem furchigen, schmalen
Bronzegesicht, selbstbewusst, in die Leere zwischen den Bäumen vor der Strasse am
Rande des Areals. Deine Herde hingegen blickt suchend in alle Himmelsrichtungen in
den Schulhausplatz hinein. Fühlst du dich alleine als Hirte unter Schafen? Ich sehe, dass
ihr auf separate, an eure Masse angepasste Betonsockel gesetzt wurdet. Ein niedriger für
deine beiden Schafe und dein Widder und für dich ein etwas erhöhter, zurückversetzter
Sockel. Im Brunnen, der nie läuft, wenn ich dich besuche, aber immer mit einer
Regenwasserlache gefüllt ist, nehmt ihr einen ganz eigenen Platz auf dem
Schulhausareal ein. Bist du hier in diesem Brunnen bei der Schule wirklich zuhause? Vor
dem Stadttheater traf ich ein Duplikat von dir, mit welchem sich einzelne Tourist*innen
jeweils fotografieren. Eine Duplikation deines Kopfes fand ich ausserdem in
Berromünster, in einer Art Museum zusammen mit 270 anderen Köpfen. In
Berromünster traf es mich etwas unangenehm, deinen Kopf lose auf einem Regal
zusehen, nachdem ich dich erst als Ganzkörperfigur kennenlernte. Im selben Museum ist
auch von Heinz ein früheres Modell ausgestellt. Ich habe gehört, dass der Künstler,
welcher dieses Haus kuratiert die Köpfe und das Heinz-Modell einander
gegenüberstellen wollte, es dann aber sein liess. Eigentlich denke ich auch, dass den
Heinz und dich ausser der Strasse nicht viel verbindet.
Ich glaube du wurdest gebaut als Symbol, für eine katholische Vorstellung des „guten
Hirten“. Als ich dich einmal anfasste, merkte ich, dass du Hohl bist. Du bist eine Schale,
die 55jährige Luft und alte Ideen festhält. Heute bist du der Hirte der vergifteten Schule,
wessen Schüller*innen wegen hoher Schadstoffbelastung im Teeröl des 60erjahre Baus
in ein Provisorium umgezogen sind. In der lokalen Zeitung las ich immer wieder über
einen Streit zwischen der Stadt, welche das Schulhaus zugunsten von
Neubauwohnungen abreissen will und dem Denkmalschutz, welcher den Bau als
wichtigen Vertreter seiner zeit unter Denkmalschutz stellte. Wegen den hohen Kosten,
die mit einer Renovation und Behebung der schädlichen Öle aufkommen würde, ist es
wahrscheinlicher, dass die Stadt Recht bekommt und das Schulhaus zurückgebaut wird.
Ich habe mich bei der Stadt erkundet, wie sie mit dir umgehen wollen, falls dein Habitat
verschwindet. Bisher konnten sie sich aber nicht für einen Umgang mit dir entscheiden.
Könntest du auch in einer 2030er Jahre Siedlung mit 200 Wohnungen stehen? Bist du
wählerisch mit den Schafen oder Menschen über die du wachen sollst?

Liebe Grüsse

Florian

Liebe Anwohner*innen des Sagenmattrain 3

Allein wachsen zwischen Anderen, entfernt von der Gruppe. Eingegliedert sein in eine ungewöhnliche
Umgebung. Einsamer Sichtschutz im Winter, nur ein Meter klein gehalten. Gesetzt
um eine Lücke, einer in der Reihe schief gewachsener Buche zu füllen. Die Struktur der
Grenze zusammen mit einer anderen Gruppe gewährleisten. Eine Grünfläche definieren, grün
bleiben, leicht verfärbt ab November. Bleiben wie die Autos, die hier parken und die Menschen,
die auch bleiben, hinter grösseren und dichteren Wänden. Fünfstämmig, leicht und orange,
schon immer herausschimmernd. Die Zweige zum Garten, zum Parkplatz ein Loch, ein Undichter
Schutz. Langsam von innen her aufgefressen werden oder Nahrung bieten an weitgereiste
Käfer. Geradestehend, eine Grenze bilden zwischen zwei Plätzen.
Es fällt mir noch schwer, mir vorzustellen was diese Thuja ist, was in ihr und mit ihr passiert.
Diese Pflanze vor dem Haus in dem sie wohnen. Sie ist eine einzelne, entfernt von den dichter
bewachsenen Thujen in der Ecke zum Parkplatz der Hausnummer 20a hin. Als ich das erste
Mal hier vorbeikam, ist sie mir zwischen den Hainbuchen mitten in derer Hecke gar nicht aufgefallen.
Erst als die anderen Heckenpflanzen ihre Blätter verloren wurde sie, immergrün,
dazwischen plötzlich deutlich. In ihrem Astsystem verfingen sich im Herbst einige Blätter der
Nachbarspflanzen. Ein solches Blatt habe ich mitgenommen und es liegt jetzt auf meinem Arbeitstisch.
Wenn ich diese Thuja berühre, fühlt sie sich leicht an und als würde sie bald umkippen.
Ich frage mich, ob sie in Gefahr ist durch den Klimawandel oder den Thuja Borkenkäfer,
so wie das viele Thujen in Europa sind. Vielleicht wird sie auch bedrängt von den massigeren
Pflanzen ihrer Heckenreihe. Auch möglich, dass es ihr ganz gut geht. Mich in einen Baum reinversetzen,
das kann ich leider noch nicht. Was denken sie? Ihr die benachbart seid mit eurer
Hecke. Ich kenne euch gar nicht und habe nur einmal jemanden gesehen. Als ich das dritte
Mal um die Häuser ging, wollte ich die Pflanze ein erstes Mal fotografieren. Das habe ich bei
einigen Thujen an der Sagenmattstrasse gemacht. Ein Mann ist mir dabei gefolgt und als ich
hier fotografierte, bemerkte ich wie er mit verschränkten Armen mich demonstrativ beobachtete.
Er stand selbst hinter den Thuja Pflanzen an der Ecke desselben Gebüschs. Als ich ihn
bemerkte wollte ich ihn ansprechen, aber leider gelang es mir nicht, da er sich zwischen den
Häusern entfernte. Auch aus diesem Grund entschloss ich mich ihnen zu schreiben. Es tut mir leid,
falls ich ihre Privatsphäre verletzt haben sollte. Ich weiss, dass die Wege, die ich gehe und
auch die Strasse, auf der ich stehe wenn ich der Thuja begegne privat sind. Um die Pflanzen
zu sehen, die Grenzen markieren, muss ich erst andere Grenzen überschreiten. Dabei fühlte
ich mich schon vor diesem Vorfall unwohl. Ich fühlte mich selbst verdächtig, so lange stehen
zu bleiben zwischen Räumen, die mit ihren Sichtschutzhecken nicht betrachtet werden wollen.
Im Zusammenhang mit meinem Interesse an den Thujen, beschäftigte ich mich auch mit Abgrenzung.
Durch Texte über den kanadischen Künstler Abbas Akhavan erfuhr ich, dass Thujen
in der Kolonialzeit von Kanada nach Grossbritannien gebracht wurden. In Kanada hatten sie
damals für gewisse Gruppen eine spirituelle Bedeutung und wurden Lebensbaum genannt.
Erst in Europa begannen die Kolonialländer die Thuja einzusetzen, um ihre Privatgärten gegen
aussen abzugrenzen. Für Europa war das es etwas neues immergrüne und so dichtwachsende
Pflanzen, so dass sie diese Aufgabe der Abgrenzung und des Sichtschutzes bekamen.
In dem Quartier in dem sie wohnen, wo so viele Häuser dicht aneinander stehen, gibt es besonders
viele Thuja Hecken. Wenn man die Geschichte der Bernstrasse anschaut, wird deutlich,
dass diese schon seit langer Zeit unter der Ausgrenzung der Stadt Luzern leidet. Schon
immer war die Bernstrasse eingeklemmt zwischen dem Gütschhügel, Zimmereggwald und der
Reuss. Bis 1890 wurde mit der Museggmauer die Basel und Bernstrasse von der Stadt zusätzlich
abgetrennt. Das Unerwünschte und Lästige wurde in die Bern und Baselstrasse verbannt
und für die Stadt unsichtbar gemacht hinter diesen Grenzen. Nachdem die Mauer zurückgebaut
wurde, waren es die Autobahn und die Gleise, welche Bern und Baselstrasse von der
Stadt abgrenzte. Immer noch hat diese Strasse den höchsten Armutsanteil der Stadt. Über der
Hälfte der Menschen, die hier leben, wird kein Schweizerpass zugestanden. Ich frage mich
deshalb welche Grenzen ich wie fest respektieren möchte. Wenn sie sich unwohl fühlen, dass
ich um ihre Blockwohnungen gehe und Pflanzen anschauen dann will ich das auch nicht tun.
Schön fände ich es aber gemeinsamen Raum zu finden und auch die Grenze zwischen Pflanze
und Mensch undeutlicher werden zu lassen. Aus diesem Grund schreibe ich ihnen meinen
Absender mit auf den Brief. Wenn sie möchten, dürfen sie mich gerne kontaktieren, es würde
mich interessieren, was für eine Beziehung sie zu ihrer Thuja haben.

Liebe Grüsse

Florian

BA Fine Arts